Wider gängige Irrtümer
Als im Jahre 1949 in Hannover eine “Evangelische Woche” auf Anregen von Reinold von Thadden-Trieglaff veranstaltet wurde, da konnte niemand ahnen, dass sich dieses Treffen engagierter evangelischer Christen einmal zum Deutschen Evangelischen Kirchentag entwickeln sollte, zum größten Protestantentreffen auf deutschem Boden. Ganz in der Tradition der Bekennenden Kirche stehend, galt es die Einheit von Frömmigkeitsleben, theologischer Denkbemühung und modernen Lebensthemen zu wahren.
Seitdem öffnen alle zwei Jahre große deutsche Städte ihre Tore für Jung und Alt. Nicht nur Evangelische treffen sich, sondern auch ökumenisch gesinnte Menschen anderer Konfessionen und Kirchen. Dieser Tage finden sich auf der Homepage des Kirchentages www.kirchentag.de apologetisch gefärbte Sätze, die sich gegen eine Engführung der Kirchentagsidee und gegen gängige Vorurteile wenden. So wird zum Beispiel die Unabhängigkeit der Organisation, der Gremien und des Programms von der EKD und den evangelischen Landeskirchen betont. Das macht hellhörig, denn schon am Eröffnungstag kann man auf allen Bühnen und in allen Kirchen hohe Würdenträger an leitender Stelle predigend und segnend erleben. Gab es in letzter Zeit zuviel Einflussnahme? Muss den Anfängen gewehrt werden, oder will man einfach den Eindruck vermeiden, Anhängsel von “Großkirche” (das Wort ist ja schon verdächtig an sich) zu sein? Auf dem Spiel steht immerhin die Freiheit des Denkens und Debattierens, welche ja eine der attraktivsten Momente des Kirchentages darstellt und auf die protestantische Kernbotschaft, die Freiheit des persönlichen Glaubens und Gewissens vor Gott und der Heiligen Schrift verweist.
Jugendevent oder Seniorenveranstaltung?
Ebenfalls in Frage gestellt wird die These, der Kirchentag sei eine reine Jugendveranstaltung. Wenn sie es denn wäre, gäbe es auch nichts zu kritisieren. So aber strengen sich die Autoren an, mittels der Statistik zu beweisen, der Kirchentag sei von allen Altersgruppen gleichermaßen frequentiert. Der Wind in der bundesdeutschen Gesellschaft dreht sich. Seit selbst in der Werbung die “neuen Alten” (also die ewig jungen und sportiven Senioren) entdeckt wurden, kann man auch im Kirchentagspräsidium nicht an der Erkenntnis vorbei: das Publikum wird älter, wächst sozusagen mit der Alterspyramide mit. Die Babyboomer, die 1981 noch den pazifistischen Aufstand gegen die atomare Bewaffnung in Deutschland gewagt haben, sind nun alle zwischen 45 und 60 Jahre alt. Sie stellen die entscheidende Gruppe in Politik und Wirtschaft, ja auch in der Kirche. Dem muss der Kirchentag Rechnung tragen. Man wird auch in Bremen merken, dass die Fragen nach Spiritualität (eine lange Zeit zwar nicht verdrängte, aber doch an den Rand verwiesene Frage im Spektrum der Kirchentagsprogramme) eine wachsende Bedeutung erlangen werden. Denn Spiritualität wird im Lebenslauf der Christen mit zunehmendem Alter wichtiger, hilft den Gedanken an das eigene Sterben zu antizipieren und Hoffnungskräfte zu entwickeln. Demgegenüber tritt das politische Engagement für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung bei den meisten Älteren zurück. Oder sollten wir eines Anderen belehrt werden. Noch ist nicht ausgemacht, ob sich die “neuen” Alten anders verhalten werden als ihre Vorgänger, also im Ganzen (wert-)konservativer und in der Ethik “kleinräumiger”, also eher auf das nachbarschaftliche Milieu bezogen.
Spannender Streit um neue Wirtschaftsethik
Trotzdem: Der Kirchentag 2009 “muss” über eine neue Wirtschaftsethik und -ordnung nachdenken. So wie bisher kann es nicht weitergehen. Die soziale Marktwirtschaft Erhard-scher Herkunft, jene deutsche kosmetische Variante der amerikanischen “reinen Lehre” ist an ihr Ende gelangt. Der Planet ist zu klein, als dass er dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden kann. Der beginnende Streit um Arktis und Antarktis, also die letzten Refugien für planetare Ressourcen, lässt aufhorchen. Die Völker sind zu sehr miteinander verwoben, als dass man die Marktkräfte sich austarieren lassen könnte. Der Einfluss einiger Partner (die Supermächte, die Atommächte, die Rohstoffkartelle) in der globalen Wirtschaft ist zu groß, als dass er nicht in reine Marktmacht gerinnen würde.
Der Kirchentag 2009 in Bremen wird spannend. Die Teilnahme wird empfohlen.