An Karfreitag lässt sich nur schwer predigen. Man hat als Prediger einen Kloß im Hals – so wie man einen Kloß im Hals hat, wenn man Menschen im Elend sieht.
Elend haben viele Menschen. Ich denke an die Abruzzendörfer in Italien, wo Menschen unter Schutt begraben liegen, wo man jetzt nach dem verheerenden Erdbeben sagt: „hier war früher mal ein Dorf.” Klagende graben mit eigenen Händen nach Angehörigen, suchen in einsturzgefährdeten Mauern nach Habseligkeiten.
Ich denke an den Kranken, der deprimiert ist, weil er sterben muss. Ärzte vermeiden vor Kranken, die Wahrheit zu sagen. Man muss sie schon dazu nötigen. denn eine Diagnose ist wie ein Todesurteil, die Krankenakte wie ein INRI-Schild über dem Kreuz Jesu. Menschen kommen, wollen dem Kranken Anteilnahme spenden, sind letztlich hilflos. Freunde nehmen Abschied, haben Tränen in den Augen, erinnern an gemeinsame Tage. Die Krankheit selbst greift immer mehr Raum im Körper, wird zur Kreuzigungserfahrung.
Im eigenen Leiden erfahren Menschen das Leiden des Gekreuzigten. „Warum hat es mich getroffen? Und die anderen können so glücklich sein, dürfen weiterleben.” Im Angesicht des Kreuzes wird plötzlich bewusst, wie wertvoll das Lebendürfen ist.
Noch schwerer wiegt allerdings das Gefühl unendlicher Verlassenheit. Kein Wunder, dass diese Verlassenheit in der Bibel als Verlassenheit von Gott beschrieben wird. Manchmal kippt sie in Bitternis um, und Anklage gegen diesen „fürchterlichen” Gott, der all dies angerichtet habe. MARCEL REICH-RANITZKI sagte neulich sinngemäß in einem Interview, der Gott, der Auschwitz zugelassen habe, müsse ja eigentlich selbst Mitglied der NSDAP gewesen sein. Schlimmstes Unheil – Gott als Urheben zugeschoben – wird als Hölle empfunden, der Verursacher wäre damit der Teufel.
Ich besuchte neulich das Freilichtmuseum in Detmold. Da sind alte Häuser wieder aufgebaut, der bäuerliche Alltag der letzten Jahrhunderte ist authentisch nachgestellt worden. In einem der Häuser – es stammt aus Ovenhausen bei Höxter – hat man sich bemüht, das Leben der Bewohner darzustellen. Ein Kurzfilm schildert den Besuchern den Werdegang einer ganz normalen jüdischen Familie – der Familie Uhlmann, besonders aber das Leben von Ilse Uhlmann, einem kleinen Mädchen, 1931 geboren – und 1941 nach Riga deportiert. 1944 verloren sich ihre Spuren. Die letzten Augenzeugen berichteten von der „Verschickung” nach Auschwitz. Verschickung ist ein böses Wort, weil es so harmlos daher kommt – in Wahrheit handelte es sich um Transport im Viehwagon, um Selektierung an der Rampe, um alles das, was dort geschah und niemand mehr aussprechen kann, weil es so unendlich grausam war.
Ilse, geborene Berghausen, war ein Adoptivkind der Uhlmanns, wuchs unbeschwert auf, wie man eben in einem kleinen Dorf damals aufwuchs. Sie hatte es sogar noch etwas besser als die anderen Kinder – sie hatte, weil ihre Eltern einen kleinen Kaufmannsladen betrieben, in dem man alles kaufen konnte, etwas Spielzeug. Ihre Mutter machte jedes Jahr vor Weihnachten eine Ausstellung mit Teddybären, Rollern, Brummkreiseln und Puppen. Freundinnen schilderten das so: „Wir guckten da gerne rein, da war es immer so schön … und auf einmal hieß es, wir dürfen nicht mehr zusammen spielen.
Ilse Uhlmann war eine recht gute Schülerin, musste aber nach dem Novemberpogrom 1938 (Göbbels: „Reichskristallnacht”) die deutsche Schule verlassen. Die jüdischen Eltern der weiteren Umgebung taten sich deshalb zusammen und ließen ihren Kindern in einer jüdischen Schule Unterricht erteilen. Die Schule, ein einfaches Zimmer, war in Detmold, und Ilse kam dort in Kost und Logis. Eines Tages wurde auch diese bescheidene Schule verboten.
Am Nikolaustag 1941 machte im Dorf Ovenhausen ein Gerücht unter den Kindern die Runde: in den nächsten Tagen komme Ilse weg. Eine wohlmeinende Großmutter packte noch einen Beutel mit Spekulatius – der wurde bei Uhlmanns durch das offene Fenster geschoben. Am 10. Dezember wurden die Uhlmanns mit ihrer zehnjährigen Tochter Ilse „abgeholt”. Das ist auch so ein Begriff aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Es meint: ein Koffer, keine Wertgegenstände, einen Mantel, ein Paar Schuhe, eine Brille. Diese Gegenstände hat man später in Auschwitz zu Bergen aufgetürmt. Jeder Koffer, jede Brille – eine zerstörte Lebensgeschichte.
Wenn wir den Passionsbericht von Jesus lesen, dann fällt auch so eine Begebenheit ins Auge: man würfelte um den Mantel Jesu. Ein Wachsoldat soll ihn gewonnen haben. Der toga-ähnliche Umhang soll aus einem durchgängig gewebten Stoff gewesen sein. Mehr besaß Jesus nicht. Wie Ilse Uhlmann – sie wird wohl keines ihrer Spielzeuge mitgenommen haben. Das war nicht erlaubt. Die Armut und das Elend eines Menschen wird erst dann deutlich, wenn man sich vorstellt, was ein zehnjähriges Mädchen in seiner Angst ist ohne seinen Teddybären, und später womöglich ohne Vater oder Mutter auf der Selektionsrampe.
Die Erinnerung an Jesus halten wir an Karfreitag wach. Aber wir tun gut daran, auch an Menschen wie die kleine Ilse Uhlmann zu erinnern. Der Besuch in jenem Haus im Freilichtmuseum Detmold war für mich mein vorweggenommener Karfreitag. Man wird still in diesem Haus aus Ovenhausen, das man mit viel Liebe wieder aufgebaut hat. In einer Videoinstallation hat man die Regale des Kaufmannsladen abgebildet, dazu werden immer andere Spielsachen eingeblendet. Bedrückend. Dazu überall Fotos aus dem Leben der Uhlmanns, Alltagsgegenstände und Mobiliar, wie sie es ähnlich besessen hatten. An einer besonderen Wand im Haus sind Löcher ausgeschnitten – die Erinnerungswand – hier können Besucher persönliche Mitteilungen hinterlegen.
Zwei Freundinnen der Ilse Uhlmann haben übrigens überlebt, sind heute in Israel zuhause, und haben durch Zeitzeugenbericht viel zur Dokumentation des Hauses und der Familie beigetragen.
Hat Marcel Reich-Ranitzki Recht, wenn er seinen ganz persönlichen Atheismus so ausdrückt, er könne an keinen Gott glauben, der so gehandelt habe wie ein Lederstiefel-Braunhemd? Das muss jeder für sich selbst entscheiden. An Karfreitag ist jedenfalls das Gefühl von Gottverlassenheit erlaubt. Jesus selbst hat es so ausgedrückt: „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.” Vielleicht hat er auch jenen Satz im Psalm 22 mitgesprochen , wo es heißt: „Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden, und die nach dem Herrn fragen, werden ihn preisen, euer Herz soll ewig leben.”
Draußen – an diesem Karfreitag – blühen die Mandelbäume.